Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich nahezu ausschließlich gearbeitet habe. Es war der erste richtige Job, und es hat verdammt viel Spaß gemacht. Die Kollegen waren jung, ehrgeizig, motiviert und wollten möglichst schnell in ihrer Karriere vorankommen. Es war eine tolle Zeit, in der ich einige Freundschaften schließen konnte und viele bierselige Abende vor ein und demselben Berliner Späti verbracht habe. Das war die Start-up Welt, wie man sie sich vorstellt, schnelllebig und dynamisch, mit vielen sehr schlauen Kolleginnen und Kollegen, die große Ziele hatten.
Arbeiten im Start-up: Wo die Freizeit zu kurz und die Leber an ihre Grenzen kommt
In dieser Zeit habe ich ungefähr 60 bis 80 Stunden pro Woche gearbeitet, mal mehr und mal weniger, aber niemals kam ich auch nur annähernd in den Bereich der vertraglich geregelten 40 Stunden Wochenarbeitszeit. Die Aufgaben, die trotz der standardmäßigen 10 bis 15 Stunden-Tage nicht erledigt werden konnten, wurden am Wochenende nachgeholt – sonst wäre die Arbeit niemals zu bewältigen gewesen.
Das erste Jahr habe ich dieses Arbeitspensum fast euphorisch gemeistert; es war großartig, nach dem Studium ohne großen Realitätsbezug derart gefordert zu sein, immer auf höchster Frequenz zu agieren, Fortschritte zu machen, Anerkennung zu erhalten und in der Karriere gefördert zu werden. Die Arbeitszeiten selbst habe ich damals kaum zur Kenntnis genommen – bis irgendwann die ersten Erschöpfungsanzeichen überhandnahmen. Die Stimmung kippte schnell von himmelhochjauchzend zu panisch-gereizt, die Kilos gingen nach oben und mein Magen (sowie auch vermutlich meine Leber) hatte mit den katastrophalen Ernährungsgewohnheiten stark zu kämpfen. Die tägliche Dosis des berühmten Club Mate, der fettige Italiener ums Eck zur Mittagspause sowie das nahezu allabendliche Bier konnten auf Dauer kaum die gesündeste Nahrungsgrundlage darstellen, und ab einem gewissen Punkt lieferten sie auch nicht mehr die Energie, die ich für die Herausforderungen dieses unglaublich fordernden Umfelds benötigte. Letztlich bin ich vieles, nur kein Perpetuum Mobile, und ohne deutliche Energiezufuhr hört das Rad dann doch zwangsläufig auf, sich zu drehen.
Neuer Job, gleiches Problem
Im nächsten Job, nach einem kurzentschlossenen Wechsel in der Hoffnung auf eine bessere Work-Life-Balance und eine angemessenere Vergütung, wollte ich alles anders machen. Doch schon im ersten Monat saß ich abends um 23:00 Uhr noch im Büro, weil unmögliche Deadlines warteten und ich mich als Neuling in der Probezeit doch beweisen wollte. Ich erinnere mich, dass ich vollkommen erledigt und verzweifelt vor meinen Bildschirmen saß und plötzlich von meiner Führungskraft über skype kontaktiert wurde. Ob ich noch im Büro sei? Ich bejahte verzweifelt, darauf hoffend nun endlich Absolution zu erhalten und ruhigen Gewissens nach Hause gehen zu können. Doch stattdessen wurde ich direkt angerufen und mit einer selbstverständlich unfassbar dringenden und wichtigen Aufgabe (denn das ist stets die Natur einer ad-hoc Aufgabe) für den nächsten Morgen betraut. In diesem Moment begannen erste Zweifel zu keimen – war es so selbstverständlich, dass ich ohne finanziellen Ausgleich derartige Mehrarbeit leisten musste, dass ich meine Freizeit und sogar meinen Schlaf für den Job opferte? War das noch fair?
Doch ich arbeitete fleißig und ich schrieb niemals meine Zeiten auf. Zeiterfassung war nicht erforderlich und ganz bestimmt nicht erwünscht, Überstunden schlicht nicht existent. Dieses Wort wurde prinzipiell in den ersten drei Jahren meiner Berufstätigkeit derart verdammt und pauschal unmotivierten Minderleistern zugeschrieben, dass ich die Kenntnisnahme von Mehrarbeit alleine schon als Zeichen der Schwäche wertete und daher jeden Zweifel am bestehenden System schnell wieder unterdrückte. Ich war dankbar für die fachlichen Möglichkeiten, die mir geboten wurden und mein Ehrgeiz wurde durch stetig steigende Herausforderungen, persönliche Anerkennung und regelmäßige Gehaltssprünge belohnt.
Urlaub beantragt – Überstunden geschenkt
Doch dann kam der Tag, an dem ich zweifelsfrei erkennen musste, dass Vertrauensarbeitszeit vieles ist, aber kein Vertrauen, und letztlich für die meisten Arbeitgeber nichts anderes darstellt als ein günstiges Instrument zur, nun ja, nennen wir es mal „überproportionalen Ausschöpfung von Arbeitskraft“. Es war Hochsommer, das Wetter wunderschön und ich war durch ehrgeizige Projekte und monatelange Überstunden grunderschöpft. Also nahm ich meinen Mut zusammen und fragte meine Führungskraft, ob ich spontan einen halben Tag Urlaub nehmen könnte.
„Natürlich“, antwortete diese freundlich. „Ich schenke dir diesen halben Tag sogar, du musst ihn nicht eintragen. Geh einfach nach Hause und genieß das Wetter.“ Ich war begeistert – ich bekam freie Zeit geschenkt!
„Aber nur, dass du Bescheid weißt“, fuhr meine Führungskraft in diesem Moment fort: „Hättest du mich gefragt, ob du Überstunden abbauen darfst, hättest du den halben Tag Urlaub nehmen müssen. Sowas geht gar nicht. Da du jedoch um Urlaub gebeten hast, schenke ich dir diese freie Zeit.“
Um es an dieser Stelle klarzustellen: Wir sprechen in diesem Beispiel nicht von einer Handvoll Überstunden, die vernachlässigbar sind und durch einen frühen Gang ins Wochenende am Freitagnachmittag ausgeglichen werden können, sondern von einer Zahl im dreistelligen Bereich.
Die unschönen Seiten der Vertrauensarbeitszeit
Ich war entsetzt über diese Antwort, weil sie unmissverständlich ausdrückte, was ich schon lange insgeheim vermutete: Dass Mehrarbeit in den seltensten Fällen, wenn sie in einem System der Vertrauensarbeitszeit geleistet wird, von einem Arbeitgeber anerkannt wird. Ganz im Gegenteil: Überstunden existieren formell nicht und werden in der Regel durch das monatliche Bruttogehalt abgegolten, so will es der (vertrauensschaffende?) Arbeitsvertrag. Also muss man diese Mehrarbeit auch nicht vergüten, geschweige denn belohnen oder in sonst irgendeiner Form zur Kenntnis nehmen. Und in Zeiten von Kurzarbeit wird sie den meisten Arbeitnehmern sogar zum Verhängnis: Denn wenn Überstunden erfasst werden, kann der betreffende Arbeitnehmer nicht einfach auf die Schnelle kostenlos (im Unternehmenssinne) freigestellt werden. Sind Überstunden jedoch nicht formell nachweisbar, können sie schlicht und einfach ohne irgendeinen Ausgleich negiert werden – der Arbeitnehmer wird schließlich in Kurzarbeit genug Freizeit erleben. Und überhaupt: in derart herausfordernden Zeiten sollte doch jeder Arbeitnehmer nicht zuerst auf sich schauen, sondern das Überleben des Unternehmens sichern!
Doch warum sollte ein Arbeitnehmer seine Arbeitskraft einfach verschenken? Ein Arbeitsverhältnis beruht nicht umsonst auf einem Vertragswerk, das die Rahmenbedingungen zweifelsfrei regelt, denn: Arbeit ist keine Freizeit und deswegen müssen wir Arbeitnehmer selbstverständlich die Vorgaben des Arbeitgebers, unseres Auftragsgebers, erfüllen, auch wenn wir vielleicht einen schlechten Tag oder einfach keine Lust haben – und dafür werden wir im Gegenzug bezahlt. Das ist die einfache und ehrliche Realität. Und wenn wir Arbeitnehmer disziplinarische Konsequenzen zu fürchten haben, sofern wir unseren Pflichten nicht nachkommen, so muss auch der Arbeitgeber seiner vertraglichen Pflicht nachkommen; wäre alles andere nicht schlichtweg Betrug?
Zeiterfassung ist nicht unmodern – sondern einfach nur unbequem
Ich selbst war damals selbstverständlich nicht von Kurzarbeit betroffen, und darum soll es hier auch nicht gehen. Die Geschichte soll nur als Beispiel dafür dienen, was Vertrauensarbeitszeit anrichten kann, wie wenig durchdacht das Konzept auf Arbeitnehmerseite oft ist, wie unbekannt die Folgen, wie ungerecht und viel zu oft rein positiv konnotiert. Noch heute kocht in mir der Frust hoch, der mich damals mit voller Wucht traf, und stärkt in mir die Überzeugung, dass Zeiterfassungssysteme die grundsätzlich bessere Variante darstellen, um die Beziehung zwischen Arbeitnehmer und -geber dauerhaft zu sichern und echtes Vertrauen zu erzeugen. Denn ein Unternehmen, das Zeiterfassung bietet, vertraut darauf, dass Mitarbeiter ihre Zeiten ehrlich erfassen; und die Mitarbeiter können wiederum darauf vertrauen, dass ihre tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten angemessen vergütet werden – sei es finanziell oder in Form des Freizeitausgleichs, der so vielen beneidenswerten Arbeitnehmern so viel mehr Urlaub bzw. Freizeit bringt.
Seien wir mal ehrlich: Stempeln ist doch nur out, weil es angeblich zu aufwändig ist, zu „undynamisch“ und absolut unattraktiv für alle Digital Natives dieser Welt. Auf die altmodischen Stempeluhren (von denen die wenigsten von uns überhaupt noch eine Vorstellung haben) mag das auch zutreffen, aber in den heutigen Zeiten gibt es so viele, so leicht umsetzbare digitale Lösungen. Von HR Software über Apps bis hin zu einer einfachen Excel-Liste, wie ich sie selbst führe, ist alles möglich, ganz iterativ und als „Minimal Viable Product“ natürlich – und damit eigentlich doch absolut agil. Zudem steht die Zeiterfassung auch nicht im Widerspruch zu den flexiblen Arbeitszeiten, die uns modernen Arbeitnehmern echte Vorteile bietet. Im Gegenteil: indem ich meine Arbeitszeiten gewissenhaft erfasse, den späteren Start in den Tag, die längere Mittagspause, den Arztbesuch oder Einkauf, einen früheren Feierabend oder aber natürlich eine engagierte Nachtschicht sauber dokumentiere, stelle ich sicher, dass ich meiner vertraglichen Verpflichtung auch wirklich nachkomme und trotz des flexibleren Zeitrahmens den Überblick behalte.
Und letztlich versteckt sich darin für mich der Charme der Zeiterfassung 4.0: dann zu arbeiten, wann es mir im Rahmen eines flexiblen Arbeitszeitmodelles möglich ist, und gleichzeitig zu gewährleisten, dass jeder Vertragspartner, egal ob Arbeitnehmer oder -geber, seine Pflicht erfüllt. Wenn das nicht transparent, digital, partnerschaftlich und damit New Work in Reinform ist – was dann?
Disclaimer: Der oben stehende Text könnte allein auf meinen eigenen Erfahrungen beruhen, muss dies aber nicht. Jeder Beitrag, der hier veröffentlicht wird, erscheint in der „Ich“-Form und entstammt meiner Tastatur, aber basiert nicht zwangsläufig auf meinen Erlebnissen oder Ansichten. Ausnahmen in Form und Stil sollen nur explizit ausgewiesene Gastbeiträge bilden. Um die Anonymität der Beitragsleistenden sicherzustellen, wird die Quelle, sofern nicht anders gewünscht und entsprechend markiert, ausnahmslos nicht benannt. Es ist damit der Fantasie des Lesers überlassen, einen Artikel als Eigen- oder Fremdbeitrag zu verstehen.
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