Die Suche nach einem neuen Job ist in den seltensten Fällen ein großer Spaß und Quell unendlicher Freude. Selbst wenn die aktuelle Arbeit von Frustration und Zorn geprägt ist, mit grauenhaften Vorgesetzten oder Kollegen aufwarten kann oder durch Über-, gar lähmende Unterforderung bestimmt wird – auch dann ist die Jobsuche eine gefühlt ewigwährende Prüfung, vergleichbar mit Asterix‘ und Obelix‘ von Hindernissen gespickter Reise nach Rom und der verzweifelten Suche nach Passagierschein A38, immer auf einem schmalen Grat zwischen Verzweiflung und Wahnsinn, Hoffnung und Freude balancierend.
Daher sei an dieser Stelle bereits als wichtigste Erkenntnis für Recruiter und Headhunter festzuhalten: Kein Mensch bewirbt sich je aus Spaß und Langeweile, und nein, in diesem Fall ist nicht der berühmte Weg das Ziel. Ich kenne niemanden, der jemals einen Bewerbungsprozess genossen hat und ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand morgens in dem freudigen Gedanken aufsteht, an diesem Tag doch endlich, endlich wieder eine Bewerbung schreiben zu können.
Insofern ist der Begriff der Candidate Experience (CX), als Vorstufe zur Employee Experience (EX), in gewissem Maße Augenwischerei. Was modern klingen soll, umfasst letztlich nichts anderes als die Erlebnisse eines Bewerbers in einem Bewerbungsprozess. Und wenn wir ganz ehrlich sind, auch wenn die moderne Talent Acquisition dadurch ein bisschen an Glanz verlieren könnte, sehen die Wünsche der Bewerber doch recht bescheiden aus:
- Die Bewerbung sollte möglichst unkompliziert einzureichen sein.
- Das Unternehmen, das die Stellenausschreibung und damit den Bedarf an Personal veröffentlicht hat, sollte sich auf die Bewerbung mit einem ersten Feedback halbwegs zeitnah zurückmelden.
- Der Bewerbungsprozess sollte klar, zeitlich angemessen und hinsichtlich der notwendigen Gespräche überschaubar bleiben, damit er auch mit parallel ablaufenden Prozessen in Einklang zu bringen ist. (Denn seien wir mal ehrlich: natürlich bewirbt sich ein Bewerber in der Regel nicht nur auf einen Job und bei einem einzigen Unternehmen!)
- Feedback nach erfolgten Bewerbungsschritten und -gesprächen sollten nicht zu lange auf sich warten lassen, und Fristen oder Versprechungen sollten eingehalten werden.
Ich war die letzten Monate auf Jobsuche und kann daher aus frischer Eigenerfahrung berichten, dass diese vier Punkte offenbar nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden, mit Ausnahme vielleicht der ersten Anforderung. Heutzutage können eigentlich alle Unternehmen eine nette Career Page vorweisen sowie ein mehr oder weniger benutzerfreundliches Applicant Tracking System (ATS), das online-Bewerbungen und automatische Eingangsbestätigungen, teils sogar Kandidaten-Zugänge fast zum Standard macht. Doch damit endet die positive CX in den meisten Fällen.
Dafür, dass die Unternehmen durch ihre Stellenausschreibung (meist mit Bitte um sofortigen Start des oder der Auserwählten) einen wichtigen Mangel suggerieren, der durch den erfolgreichen Hire behoben werden soll, lassen sich die meisten Recruitingabteilungen doch erstaunlich viel Zeit für eine erste inhaltliche Rückmeldung zur Bewerbung. Sofern überhaupt eine Rückmeldung gesendet wird. Ich kenne Fälle, in denen der Bewerber nach drei bis sechs Monaten eine Standardabsage erhalten hat, da die Stelle zwischenzeitlich besetzt wurde. „Quelle surprise“, denkt man sich da, und: „Was war das nochmal für eine Position?“, während man mit gepackter Schultüte zum ersten Tag im neuen Job aufbricht. Also der, bei dem dann doch irgendwie alle oberen Kriterien etwas weniger dramatisch verletzt wurden und der das Rennen im Auswahlprozess gemacht hat. Denn als Kandidaten meint man es mit dem gewünschten Jobwechsel schon ernst, auch wenn das offenbar eine teils schockierende Erkenntnis sein mag (es gibt sie wirklich, die Recruiter, die einen nach 3 Monaten Wartezeit zum Erstgespräch einladen und dann überrascht sind, dass man zwischenzeitlich eine Alternative gefunden hat).
Während man im Falle einer ausbleibenden Erstrückmeldung kaum Zeit in den Prozess investiert hat, gestalten sich der dritte und vierte Punkte der obigen Anforderungsliste doch als weitaus kritischer für unser Zeitkonto und emotionales Wohlbefinden. Denn wenn man sich einen vier-, fünf- oder gar neunstufigen Bewerbungsprozess (looking at you, Google… Wobei auch dort mittlerweile Vernunft eingekehrt ist) entlang gequält und mit ca. 90% der zukünftigen Kollegenschaft hat sprechen, lunchen oder testweise zusammenarbeiten dürfen, ist die Investition in den Bewerbungsprozess doch beachtlich und sollte entsprechend wertgeschätzt werden. In der Regel finden die Bewerbungsgespräche oder Probephasen schließlich nicht am Wochenende oder in den späten Abendstunden statt, sondern werden zumeist mitten am Tag terminiert, weil das schließlich auf Unternehmensseite so gut passt. Dass man als Kandidat dafür Urlaub nehmen muss oder die Pause im Homeoffice verschenkt, ist völlig irrelevant, denn schließlich sind wir Bewerber doch die Bittsteller, und daran kann auch der Fachkräftemangel immer noch nichts ändern.
Wenn wir also schon unsere Zeit in einen Bewerbungsprozess stecken, uns dem ständigen Urteil der Fachabteilung und künftiger Vorgesetzter oder Kollegen aussetzen, und anhand einschlägiger Karriere- und Bewerbungstipps vorbereitet waren – ja, dann dürfen wir doch eine gewisse Verbindlichkeit auf Gegenseite erwarten. Und was so selbstverständlich klingt, ist in der Recruitingwelt oft leider noch viel zu selten tatsächliche Praxis. Ich kann nur Vermutungen darüber anstellen, warum Bewerber – und hier kann aus einem reichen Erfahrungsschatz des Freundes- und Familienkreis sowie eigener schmerzlicher Erlebnisse geschöpft werden – in vielen Fällen nach einem Gespräch nie wieder etwas von einem Unternehmen zurückhören: Vielleicht hat der firmeninterne Feedbackloop so lange gedauert, dass sich der zuständige Recruiter kaum noch traut, den Kandidaten zu kontaktieren (seid also dankbar für den Mut eines HR Kollegen, der sich nach längerer Zeit dann doch noch meldet!), vielleicht ist im System etwas schief gelaufen oder vielleicht sind die Candidate und Talent Pipelines einfach so prall gefüllt, dass man als Einzelner zwangsläufig untergeht. Aber was auch immer der Grund ist, er ist letztlich keine valide Begründung, sondern eine lahme Ausrede. Verbindlichkeit ist in einem Auswahlprozess, der auf Professionalität, Vertraulichkeit und gegenseitiger Wertschätzung für die Zeit des Gesprächspartners beruhen sollte, unerlässlich und in Zeiten von Recruiting-Tools und Systemen auch kein Hexenwerk mehr. Ganz abgesehen von der moralischen Verpflichtung, in der man doch stehen sollte. Lernen wir nicht alle bereits im Ethikunterricht der 5. Klasse den nicht ganz so komplexen Leitsatz: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.“?
Aber falls die Grundregeln der Höflichkeit im Recruitingknigge der modernen Arbeitswelt noch nicht vollständig angekommen sind, können sich interessierte Unternehmen zur Aufklärung gerne jederzeit an mich wenden – ich bin schließlich auf Jobsuche und somit verfügbar, sofern es meine offenen Bewerbungsprozesse zeitlich zulassen, natürlich.
Disclaimer: Der oben stehende Text könnte allein auf meinen eigenen Erfahrungen beruhen, muss dies aber nicht. Jeder Beitrag, der hier veröffentlicht wird, erscheint in der „Ich“-Form und entstammt meiner Tastatur, aber basiert nicht zwangsläufig auf meinen Erlebnissen oder Ansichten. Ausnahmen in Form und Stil sollen nur explizit ausgewiesene Gastbeiträge bilden. Um die Anonymität der Beitragsleistenden sicherzustellen, wird die Quelle, sofern nicht anders gewünscht und entsprechend markiert, ausnahmslos nicht benannt. Es ist damit der Fantasie des Lesers überlassen, einen Artikel als Eigen- oder Fremdbeitrag zu verstehen.
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