So komplex sich unsere heutige Gesellschaft zeigt, so viele Möglichkeiten sie bieten mag, so vielfältig scheint gleichzeitig unser Verständnis der neuen Arbeitswelt, in der wir uns alle – mehr oder weniger ausgereift – befinden. Auch wenn allgemeiner Konsens hinsichtlich der aktuell gültigen Version, der Arbeit 4.0, besteht, und auch der Weg hierhin sowie die Abgrenzungen zu den relevanten Vorgängerversionen dank der modernen Arbeits(markt)forschung nachvollziehbar sind, scheint in der tatsächlichen Umsetzung ein grundsätzlicher Standard ihrer Kernkonzepte noch in weiter Ferne.
Nicht umsonst trägt dieser Blog den Namen „work fo(u)r zero“, sprich „Arbeit 4.0“ oder auch ketzerisch „Arbeit für Nichts“ und verfolgt das Ziel, die Facetten der New Work kritisch zu beleuchten. Denn wenn man sich einschlägige Fach-Artikel zur neuen Arbeitswelt durchliest und die Beschreibungen dort mit seiner täglichen Arbeit vergleicht, mag man überrascht sein, wie gering die Übereinstimmung zwischen SOLL, also den hehren Ansprüchen der Arbeit 4.0, und IST, sprich der tatsächliche Umsetzung im individuellen Unternehmen, ausfallen kann. Die Diskussionen, die ich im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis führe oder mitbekomme, zeigen, dass bei Weitem nicht alle von der neuen Arbeitswelt überzeugt sind, die uns doch als Wundermittel verkauft wird auf dem Weg zur Selbstbestimmung, dem Gipfel der Maslowschen Bedürfnispyramide*, der letzten Stufe unserer menschlichen, irdischen Wünsche.
Zurück ans Fließband?
Bevor der Tonfall des vorherigen Absatzes einen falschen Eindruck erzeugt, möchte ich an dieser Stelle direkt klarstellen: Ich kenne niemanden, der sich die frühen, vielleicht simpleren Versionen unserer Arbeitswelt zurückwünscht. Also jene Zeiten, in denen der Großteil der Arbeiterschaft noch am Band stand und kleinstteilige, repetitive Aufgaben ausgeführt hat und dabei einem festen Schema von Kontrolle, Belohnung und Bestrafung folgen musste. Oder aber die Zeiten, in denen man noch die Arbeitsmaterialien der prä-digitalen Welt nutzte und per Brief, Fax und auf anderen mystischen Wegen kommunizierte, die uns Digital Natives heutzutage geheimnisvoll und fremd vorkommen (Rauch- und Morsezeichen? Brieftauben, gar Eulen wie in Harry Potter?). Die wenigstens träumen sich zurück ans Massenfließband, auf Feld und Hof, in den Viehstall oder den dunklen Bergstollen – wobei es natürlich Ausnahmen gibt, die immer schon oder jetzt wieder die Liebe zur Natur und körperlicher Arbeit entdeckt haben. Doch dies dann meistens als Gegentrend zum Arbeiten im Großraumbüro (dem Open Space) und der unvermeidbaren körperlichen Deformierung dank ungesunder Sitz- und Nackenhaltung am mehr oder weniger höhenverstellbaren (Heim-)Arbeitstisch.
Wir wollen nicht zurück in eine Zeit, in der ein Mitarbeiter nichts anderes war als ein fleißiges Arbeiterbienchen, die Drohne, die zum Erhalt des ganzen Stocks notwendig ist, und die ihr Leben bereitwillig dem großen Ganzen opfern würde. Deren Leichnam man ignorieren könnte, bis vielleicht ein paar räuberische Ameisen den ausgetrockneten Kadaver unter ebenfalls lebensmüder Opferbereitschaft entsorgen. Nein, zum Glück leben wir in einer Zeit, in der Arbeit der Sinnerfüllung dienen und den Menschen möglichst große Freiräume bieten soll, im Austausch für einen nicht unerheblichen Zwang Drang zur Autonomie und Flexibilität. Vielleicht immer noch als Drohne, aber eine ganz individuelle, die sich ihre Arbeitsabläufe selbst gestalten, mithilfe modernen IT Equipments möglichst automatisieren und im Schwarm (hier aber natürlich mit positiver Konnotation) weiterentwickeln darf. Der Individual Contributor im Big Picture, im Einklang mit der ehrlich nachhaltigen und rein zufällig imageförderlichen Unternehmensvision und -strategie.
Gemeinsame Standards gegen Anspruchs- und Planlosigkeit 4.0
Doch was wir Mitglieder des modernen Arbeitsmarktes uns tatsächlich wünschen sollten, ist ein grundsätzlich vergleichbares Verständnis für unsere Arbeit 4.0, ein zentrales Verzeichnis für jene (d)englischen Begriffe, mit denen ein moderner Employer heute um sich wirft. Damit gewährleistet werden kann, dass uns nicht in Abhängigkeit vom Unternehmen gänzlich andere Arbeits- und Kulturwelten erwarten, dass z.B. das Mobile- bzw. Homeoffice tatsächlich ein wichtiger Baustein der Arbeitsplatz- und -zeitgestaltung ist, und nicht nur ein sehr dehnbarer und flexibel gültiger Begriff zum Zwecke des Employer Brandings. Denn wer kennt sie nicht, die Vorgesetzten und Vorstände, die je nach Wirtschaftslage, Abteilung, Position und persönlicher Neigung dann doch hinterfragen, ob die Mitarbeiter nun wirklich einen Tag pro Woche im Home Office arbeiten dürfen, selbst wenn firmenweite Standards (gar Betriebsvereinbarungen?) jeglichen Interpretationsspielraum rauben sollten. (Home Office in Zeiten von Corona natürlich ausgenommen, was völlig überraschenderweise dann tatsächlich doch gut funktioniert.) Was uns Employees 4.0 helfen könnte, wäre eine zentrale Begriffsdefinition von flexiblen Arbeitszeiten und attraktiver Vergütung (auch für Überstunden?), von flachen Hierarchien (und kurzen Entscheidungswegen, wenn wir schon dabei sind), Benefits, modernen Arbeitsplätzen, Entwicklungsperspektiven und Weiterbildungsmöglichkeiten, von Onboarding, Mentoring und sonstigen Begriffen, von denen jede Stellenanzeige heutzutage überquillt und die unser Wohlbefinden, unsere Karriereplanung und oft gerühmte Work-Life-Balance doch unbekannterweise so maßgeblich beeinflussen.
In unserer vernetzten Welt, in der man Wissen innerhalb von Sekunden online abrufen und auch generieren kann ohne mühselig zum Brockhaus im Bücherregal greifen zu müssen, und in der Knowledge Management ein wichtiger Begriff des öffentlichen und betrieblichen Lebens geworden ist, sollte es doch möglich sein, zentrale Grundsätze und Standards der Arbeit 4.0 zu schaffen. Letztlich liegt das Geheimnis doch nur darin, die Begriffe, mit denen heutzutage jeder Job wahllos beworben wird, definitionsgemäß in die Realität umzusetzen (oder einfach wegzulassen, wenn die Umsetzung unmöglich ist), um Fairness, Verbindlichkeit und Vergleichbarkeit herzustellen. Aber vielleicht kann dieser Blog ja einen kleinen Beitrag dazu leisten, in dem wir uns ehrlich anschauen und davon berichten, was hinter den einzelnen Begriffen der wohl doch nicht ganz eindeutigen New Work steckt, und welche tatsächlichen Erfahrungen wir damit in der Realität machen. Vielleicht gelingt es uns dadurch, unsere heutige komplexe Welt auf so einfache Weise ein kleines bisschen einfacher zu gestalten, selbst wenn wir dadurch natürlich ein wenig Agilität und Innovationskraft einbüßen könnten.
*In der Maslowschen Bedürfnispyramide werden die menschlichen Bedürfnisse in unterschiedliche Kategorien geordnet und sortiert: aufsteigend von den grundlegendsten physiologischen Bedürfnissen (Wasser, Essen, Schlaf usw.) über Sicherheits- (Grundsicherung) und soziale Bedürfnisse (sozialer Anschluss) bis hin zu individuellen Bedürfnissen (Vertrauen, Fremd- und Selbstwertschätzung, Erfolg u.v.m.) und schließlich der Selbstverwirklichung. Die wundersame Transzendenz (also die Überschreitung der endlichen Erfahrungswelt) als letzte Krönung und nachträgliche Erweiterung wird an dieser Stelle aus mangelndem Bezug ausgeklammert, auch wenn ich von mir behaupten kann, in manchen Team Meetings durchaus die Welt des irdisch-menschlichen Erlebens hinter mir gelassen zu haben.
Disclaimer: Der oben stehende Text könnte allein auf meinen eigenen Erfahrungen beruhen, muss dies aber nicht. Jeder Beitrag, der hier veröffentlicht wird, erscheint in der „Ich“-Form und entstammt meiner Tastatur, aber basiert nicht zwangsläufig auf meinen Erlebnissen oder Ansichten. Ausnahmen in Form und Stil sollen nur explizit ausgewiesene Gastbeiträge bilden. Um die Anonymität der Beitragsleistenden sicherzustellen, wird die Quelle, sofern nicht anders gewünscht und entsprechend markiert, ausnahmslos nicht benannt. Es ist damit der Fantasie des Lesers überlassen, einen Artikel als Eigen- oder Fremdbeitrag zu verstehen.
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